Beschreibung
Grüne Chronik
Friedrich von Gagern
Keine Frage: Friedrich von Gagern war der wortgewaltigste Jäger des 20. Jahrhunderts. Im Jahr vor seinem Tod 1947 schrieb er in Sankt Leonhard am Forst in Niederösterreich sein dichtes und faszinierendes Spätwerk: die “Grüne Chronik”. – Eine Leseprobe über das Jagen mit seinem Hund “Petz”.
Eines Jahres beschäftigte wieder einmal ein Bock verschiedene beteiligte Gemüter. Er stand droben im “Kirchenholz”, von dem gerade nur der knapp hundert Meter breite Südstreif meinem Revier angehörte, fegte hier ungemein eifrig, wurde von den Nachbarn als starker rücksätziger Gabler, von meinem Ausgeher als “Trumm-” oder “Enzwaschl-Sexa” angesprochen – und von keinem gekriegt. Am vertrauenswürdigsten erschien mir die Ansage eines alten, nur gerade hie und da mit seiner ehrwürdigen Expreßbüchsflinte ruheständlerisch jene Revierecke abspazierenden Forstverwalters: halb guter Sechser, halb krummer Gabler. Ich selbst überließ das Fabeltier vorläufig seinem Schicksal.
Aber eines Oktobertages trieb ich mich in jener Gegend herum, und wie die Gunst der Geister es eben will: aus einem noch nicht abgeernteten Kukuruzstück nah unterm Kirchenholz sah ich lange vor Abend einen Bock austreten, der mit seinem ungleichen, einerseits hohen, anderseits verbogenen Gehörn der berühmte Gesuchte sein mußte. Die Entfernung überschritt meine Schußweite, auch hatte es der Bock sehr eilig. Ohne Aufenthalt trollte, streckenweis flüchtete er tief unterm langgestreckten Kirchenholz hin über die Felder; zwei kleinere Schopfe wurden, wohl wegen umherwimmelnder Arbeit, als Einstände verschmäht, offenbar nach dem größeren Dangelsbacher Holz ging die Reise. Ich folgte so schnell es ging oben auf dem Wege, doch dem Wilde den Wechsel zu verlegen bestand keine Möglichkeit. Über einen Rücken des vielfältigen Geländes hinweg verschwand der Bock gegen die Dangelsbacher Waldwand.
Wo er hier zu suchen sein würde, das erriet ich allerdings. Es gab da einen steil zum inneren Graben abfallenden, anderthalb-zweimannshoch verdistelten, verdornten, verstaudeten, verfilzten Schlag, eine wirkliche Wildnis zwischen Fichtenschonungen und holundrigem Hochbestand; hier stellte sich das Reh mit Vorliebe ein, aber zu Gesicht bekam man es fast nie oder nur von jenseits über große Entfernung; der Wucherwuchs gestattete keinen Einblick. Zur Sicherheit ließ ich den Waldsaum vom Hunde – “Petz” – abschmecken. Es stimmte schon: mitten oberhalb der Wildnis markierte er mit lebhaftem Interesse den Einwechsel und noch dazu zeigte er mir die Nähe des Bockes unzweifelhaft an. Diese Anzeige war nie zu verkennen. Mit hohem Kopf, ähnlich der Stellung eines zum Monde oder zum Gott der Liebe hinanheulenden Hundes – ähnlich auch dem einen besonders feinen oder verräterischen Geruch von fremdem Parfüm, verdächtiger Zigarette oder wirklichem Brand witternden Menschen – sog Petz den Wind in tiefen Zügen inbrünstig ein, und zwar galt das Zeichen immer nur dem Reh, nie dem Hasen, auch nicht dem so aufregend duftenden Fasan; der Fuchs wurde anders, mit weniger hoher Nase, dafür gesträubtem Kamm angesagt. In der Wildnis stand oder saß unser Bock also auf jeden Fall, das wußten wir; und daß wir ihn auf keinen Fall mit gewöhnlichen Mitteln bekommen würden, wußte zumindest ich auch. Ich entschloß mich für einen Versuch mit sanfter Gewalt. Allein wo seinen Stand beziehen? Ich wählte den Graben; dort gab es eine zwar auch hochvergraste aber doch zur Not beschießbare Blöße oder Blänke. Draußen am Waldsaum stellte ich mich bei solchem Stöbern niemals an; da kommt das Wild, wenn überhaupt, stets in voller Flucht herausgebrochen. Auf Umwegen stieg ich nach jener Blänke hinab; gering die Wahrscheinlichkeit auch hier, indessen gering ist immer noch mehr als gar nichts. “Petz” vergewisserte sich, begriff, verschwand auf Wink durch die anstoßende Fichtenschonung bergan, bald sah ich die Disteln und Gerten, Ranken und Stockschößlinge vom Einwechsel herab im Zickzack des langsamen Durchwedelns schwanken. Aber noch einer anderen solchen Bahn des Schwankens und Zuckens wurde ich gleich drauf gewahr, und diese schnellere Bewegung verlief in Rucken gerade gegen mich herunter. Wie mathematisch ausgerechnet erschien der Bock plötzlich im halbverschleiernden Altgras der Blänke; nahezu vertraut, vom Hunde eben nur angeregt, verhoffte er nach dem Grabengrund; ich ließ mir sogar Zeit, mich seiner Persönlichkeit durch das kleine scharfe Glas zu versichern: es stimmte. Wohl eräugte er das Absetzen des Guckers und den Anschlag, in mäßiger Flucht wollte er nach links wegbrechen; zu spät, das Korn deutete dicht vor seinen dicken, gerade frei sichtbaren Hals, er versank im Knall. Petz kam, suchte, fand, griff; das Verbellen schenkte er sich, immer nur den Herrn außer Sicht rief er mit seiner wohllautenden Meldung herbei. Der Bock, vollständig grau, vierjährig, war ungewöhnlich stark von Wildbret, fünfundzwanzig Kilogramm; das Gehörn, noch fest auf den Rosenstöcken, zeigte eine hohe dünne kahle Sechserstange und eine weitaus niedrigere, oberhalb der geringen Rose vorgekröpfte, dann zurückgekrümmte Gabel auf verbogenem – nicht gebrochenem – Stirnzapfen. Als Abschußbock konnte der Erlegte mithin keinesfalls gelten, denn eine erworbene Verunstaltung vererbt sich nicht. Der Verschub der Stirnzapfenachse aus der Parallele nach vorne ist allerdings nicht recht erklärlich. Die eben erst schwach angedeutete Abwurfstufe läßt auf eine schräggestellte Trennfläche und auf einen elliptischen Keimring schließen.
Dieses Erlebnis war typisch für die Stöberarbeit des Hundes. In ähnlicher Weise hat er mir im Herbst des folgenden Jahres aus dem nämlichen Disteldschungel – bei anderer Wahl des Standes – einen schlechten älteren Sechser mit angesetzter echtdritter Stange, hat er mir in anderen Herbsten einen häßlichen schäbigen Altspießer, einen merkwürdigen Gabelkümmerer, einmal einen “Plattkopf” oder “Mönch” bequem vor Kimme und Korn lanciert, nicht zu gedenken einer Anzahl von Abschußricken und -kitzen. Den schäbigen Spießer, von dem mitunter auch mal aushakenden Herrn recht unrühmlich angestümpert, zog er nach ganz kurzer Folge in der Fichtendickung an der Drossel nieder; nicht einmal einen erstickten Klagelaut vernahm man, desto schöner die tröstliche Meldung. Den Gabelkümmerer hatte er wieder einmal – wie so viele andere Stücke – mit jenem hochnasigen tiefschöpfenden Einwinden angezeigt; ohne dieses Zeichen wäre ich an dem kleinen Maiß vorübergegangen. Was gilt, was verdient solch ein Hund?
Aber auch auf der Birsch war diese Anzeige oft von Wert. Bei dem häufigen Einstandswechsel des von Holz zu Holz, Dickung zu Dickung zigeunernden Wildes konnte man sieben- unter zehnmal bis ins Aschgraue vor einem ganz leeren Hause sitzen, anderseits der stumpfen Menschennase nach an seinem Weidmannsheil ahnungslos vorüberlaufen; der schärfere Sinnverstand des Hundes verhalf da dem Jäger nicht selten zu Rat und Richtung. Einmal hatte ich mich an der Ecke eines ganz kleinen aber inwendig mit unterständigem Jungtannicht, Brombuschlauben und anderen gemütlichen Heimlichkeiten sehr hübsch ausgestatteten Feldschopfes in den Nachmittagsschatten gesetzt, um vor dem Abendgang in einem entfernteren Revierteil bei Tabak und stillen Gedanken auszuruhen, vielleicht auch eine Krähe oder für den heimischen Suppentopf zwei Ringeltauben zu schießen. Da hob der alte “Petz” im Liegen die Nase und schöpfte so recht inbrünstig Wittrung aus dem Holz, in Pausen zweimal oder dreimal zu je drei oder vier Zügen. Ich blieb daraufhin am Platze und wurde für mein Vertrauen belohnt durch den Anblick und das Studium eines zeitig zum Bummel austretenden ganz guten Sechsers, den in der Blüte seiner blonden sprossigen Jugend totzuschießen allerdings eine Sünde gewesen wäre. Ein andermal wurde ich im Vorübergehen vom Hunde in gleicher Weise aufmerksam gemacht auf einen mit dichtem Dorngebüsch erfüllten, nicht eben tiefen aber auch nicht einzusehenden Graben, Auslauf einer Seitenschlucht; ich baute mich irgendwo in Schußnähe an, und aus der Runse gestiegen kam gegen Abend ein richtiger, armer Sündenbock, vierjährig – wie hinterher das Gebiß sagte – mit lauscherhohen, zwangsständigen, scharfgeperlten Spießen. Wieder einmal zeigte sich bei der Einbirsch ins Härgerstaller Holz, daß ich, weiß nicht mehr ob aus Freude über den just vor meinem Aufbruch von Hause mit der Post eingelangten Steuerwisch oder aus Zorn über irgendeine mit Literatur zusammenhängende Belästigung, das Glas daheim vergessen hatte. Schon wollte ich umkehren und den Nachmittag auf dem Tauben- oder Krähenstrich verbringen, da sah ich, wie der Hund gleich in die erstnächste Schonung hineinwindete und setzte mich in Gottesnamen auf gut Glück hin. Wirklich wurde daraus gutes Glück, denn nach zwanzig Minuten lag vor mir ein dreiläufiger Krüppelbock, nach dem ich schon längst die Landschaft abgeleuchtet hatte und der mir nun auf dreißig Schritte in den Drilling gezogen kam. Bei einer solchen Gelegenheit lieferte “Petz” übrigens auch den Beweis einer anderen Tugend. Auf seine Anzeige hin hatte ich mich, weil anders nicht zu machen, ziemlich steil oberhalb eines zwischen Wiesen ausstreichenden Waldgrabens hinter einem dickstämmigen Obstbaum angesetzt, und kurz vor Einbruch der Dämmerung trat mit einer Gais der schlechte Bock aus. Ich hatte an jenem Abend die Büchsflinte auf den Knien, und wie ich nun einstechen wollte, sprang der Schneller haltlos ab, das Stellschräubchen, sträflicherweise von mir nicht kontrolliert, hatte sich bei der Reinigung oder sonstwie zu tief eingedreht. Angesichts eines wenn auch wenig begehrenswerten Bockes wird man sich nicht auf fiebrisch fummelnde Repassierungen einlassen; so schoß ich mit dem hartstehenden Abzug und fehlte. Bock und Gais äugten ratlos; ich lud nach und fehlte zum andernmal. Jetzt wurde es der Gais zu schwül, sie nahm Urlaub, der Bock aber zog nur einige Schritte weiter und schien zu überlegen. Die dritte Kugel machte der Stümperei ein Ende; etwas sehr hoch saß sie allerdings auch; “Petz” hatte, den Bock vor Aug und Nase, dem ganzen Skandal in eherner Fassung zugesehen. Mehr an Stand- und Schußruhe wird auch der strengste Richter nicht verlangen.
Natürlich kann nicht jedes Stück Rehwild in der beschriebenen Weise angezeigt werden; nicht immer steht der Wind aus der Dickung – oder zum Beispiel aus dem Getreideschlag – gerade auf den Hund her, und auch die Entfernung spricht hier mit. Anderseits ist es auch vorgekommen, daß ich auf selbstgewähltem Stande nach einiger, zuweilen nach längerer Zeit durch Petz’ Gebaren auf anziehendes Wild aufmerksam gemacht und vom Abbruch der Sitzung zurückgehalten wurde. So war es am Abende eines etwas bunten Tages im Mühltaler Holz – bunt darum, weil ich frühnachmittags einem bummelnden Schäferhunde, später einer unverbesserlich streunenden Dalmatiner Dogge je eine scharfe Verwarnung hatte erteilen müssen. Da blockte ich nun ziemlich mißmutig zwischen Selbstvorwürfen und Selbstverteidigung hinter einer Zwieselfichte, die Sonne sank, schon wollte ich Feierabend machen: doch Petz deutete mit mehrmaliger Hebung des Kopfes und unmißverständlich warnendem Seitenblick hinüber nach der hohen wüstwüchsigen Schonung im Schattenwinkel des Hanges, ich gab eine Viertelstunde, nach wiederholter Anzeige noch eine zweite zu. Diesmal sollte es sich lohnen. Ein im Wildbret zwar geringer, nach Gebäude und Krone aber sichtlich sehr alter Bock trat, nein schlich aus einer Tunnelierung der Fichten- und Dorngewindwildnis in der untersten Dämmerecke aus. Ich nahm mich stramm zusammen, und die kleine rauchlose Frohnpatrone in ihrem Drilling, Juwel an Sauberkeit und Präzision, tat wieder einmal ihre Schuldigkeit; der Getroffene taumelte einen Schritt zurück und klappte um. Auf diese Erlegung fiel ein abendlicher Abglanz einstiger Freuden; ein in seiner Art befriedigendes Beutestück, ein überfälliges Wild und ein guter Schuß alten Stils. Spannhohe, pfahlgerade, kaum angegabelte, sehr gut geperlte sattbraune Stumpfstangen auf starken Rosen und dicken Zapfen, und darunter ein Gebiß aus – seien wir vorsichtig mit Jahren! – aus, sagen wir, dem letzten Lebensdrittel seines Besitzers: Mahlzähne völlig niedergeschliffen, der erste Eckmolar schon schief unter die Kaufläche hinabvernutzt. Im Widerspruch dazu haben die Rosen noch engen Schluß und keinen Seitenhang; immer wieder Gegensätze und Ausnahmen. Jedenfalls hatte der Bock das, was er einst für dieses Revier gewesen sein mochte, sattsam vererbt …
Das jagdliche Vermächtnis des großen österreichischen Jägerdichters.
416 Seiten. Exklusiv in Leinen.
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