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Der Berggeher
Wieland Elfferding
Bergführer machten hundert Jahre lang den Menschen Gipfel und Grate zugänglich, die sie allein nicht erreicht hätten. Im Zeitalter des Rundum-Entertainments am Berg treten sie mehr und mehr in den Hintergrund.
Die biografische Erzählung „Der Berggeher“ setzt diesen Helden des stillen Alpinismus ein Denkmal.
104 Seiten. Exklusiv in Leinen.
Preis: Euro 19,–
inkl. MwSt.
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Sich wie Reinhold Messner zu inszenieren, wäre ihnen zuwider gewesen. Dennoch waren sie die alltäglichen Helden der Berge: die Bergführer der alten Schule. Ob bei der Bergjagd oder beim Bergsteigen: Jeder kann von diesen Alten etwas lernen, fürs Gehen und fürs Leben. – Buch-Auszug.
... „Wenn du viel Zeit hast, so gehe schnell.“ Die hohe Kunst besteht im Langsamgehen. Das langsame Gehen erweist sich, auf einen Tag berechnet, als das schnelle. Es ist auch nicht wirklich langsam, sondern ruhig. Geübte Berggeher versetzen den Körper in eine ruhig fließende Bewegung mit minimalem Kraftaufwand, so dass diese Art zu gehen auch noch eine Reserve für unvorhergesehene Lagen aufbaut. Die Kräfte bis zur Neige aufzuzehren kann im Extremfall den sicheren Tod bedeuten ...
Womit sich die Menschen nicht alles beschäftigen, wenn sie heute in die Berge gehen: Wie viele und welche Membranen hat ihr Anorak? Welche Kletterhaken sind die besten? Mit welcher Lotion sollte der Körper eingerieben, welche Mittel eingenommen werden, um einen optimalen Erfolg am Berg zu erreichen? Der Berggeher lächelt müde und bemerkt: Die meisten Menschen sollten zuerst einmal gehen lernen. Was er damit meint, zeigt ein aufmerksamer Blick auf Menschen, die sich bergauf bewegen. Da sind die einen, die ihre Füße nach vorn schleudern, um den Körper mit Kraftanstrengung nachzuziehen, statt einfach auf die Schwerkraft zu vertrauen und sich nach vorn fallen zu lassen und im richtigen Augenblick die Beine nacheinander vorn auf den Boden zu setzen. Unglaublich, wie viel Kraft das auf tausend Höhenmeter spart!
Andere führen mit dem Oberkörper, mit den Armen die abenteuerlichsten ruckartigen Bewegungen aus und vergeuden bei jedem Schritt Energie. Vielfach hängt die Bewegungsweise am Berg damit zusammen, dass den Menschen das Gehen am Berg als Beschäftigung nicht genügt und sie den Büroalltag der gesamten Woche noch einmal durchsprechen müssen oder ihre Erbschaftsprobleme und die letzten Prozessausgänge durchhecheln. Aufmerksamkeit und Kraft gehen ins Reden, man muss sich ständig umdrehen, um die Begleiter von seinen Ansichten zu überzeugen, der Weg, die Blumen, die Steine, die Tiere bleiben unbeachtet. Manch Stolperer stellt sich ein, weil die Augen mehr nach innen und in die Vergangenheit gerichtet sind als auf die gegenwärtige Umgebung.
Beim Gehen sind beileibe nicht nur die Füße beteiligt, auch nicht nur die Beine. Der Kopf soll nicht die ganze Zeit lang gesenkt sein, wie umgekehrt ein Hans-Guck-in-die-Luft leicht zu Fall kommt. Letztlich entscheidet die unsichtbare ruhige Linie, auf welcher der Körperschwerpunkt seinen Weg beschreibt. Die Atmung spielt eine entscheidende Rolle. Wer zu spät auf eine tiefe Atmung umstellt – und das heißt in erster Linie: gut ausatmen! –, bekommt in der Höhe Probleme. Das Berggehen ist etwas anderes als die Bewegung im Flachland. Der Unterschied macht sich besonders in steilem Gelände geltend. Wird derselbe ruhige und gleichmäßige Rhythmus auch beibehalten, so werden die Schritte entsprechend kürzer, damit der Kraftverbrauch nicht unverhältnismäßig wächst. Hier haben Ungeübte die größten Schwierigkeiten, weil sie im Steilhang das Gleichgewicht nicht halten können und sich wie auf einem stehenden Fahrrad vorkommen und umzukippen drohen. Also beschleunigen sie den Schritt und geraten bald außer Atem.
Da hängt der Erfolg davon ab, wie die Füße gesetzt werden. Wer einfach weiter die Füße geradeaus nach vorn setzt, verkrampft leicht im Spann und zwingt sich, das ganze Körpergewicht nur noch mit den Zehen zu halten. Den Fuß ein wenig schräg aufgesetzt, geht es sich sofort leichter, und der Stand kann, bis hin zum Seitwärtsgehen, flexibel dem Gelände angepasst werden. Ganz anders verhält es sich in steilem Schotter und Geröll. Hier wird ein eigenes Kapitel der Wissenschaft vom Gehen aufgeschlagen. Es erfordert lange Übung, um das Gefühl dafür zu bekommen, wie das ständige Zurückrutschen und das anstrengende Ausgleichen des Tritts vermieden werden kann. Nur wer gelernt hat, hier den Fuß mit der ganzen Sohle aufzusetzen und dabei den nachgebenden Grund gleichsam mit dem Fuß und dem Körpergewicht an den Berg zu drücken und auf diese Weise das Nachrutschen zu verhindern, kann auch in diesem schwereren Gelände stundenlang ohne großen Mehraufwand an Energie gehen. Was für eine Lust, mit schweren Bergschuhen auf dem Rückweg es in feinem Geröll einfach laufen zu lassen und wie auf einem Schneefeld abwärts zu rauschen!
Solche jugendlich-übermütigen Aktionen unterlässt der Geher heute. Gewiss, als junger Mann ist er, wie die anderen auch, vielfach den Berg hinabgerannt. Das war die Zeit, in der man noch nicht an die Knochen dachte, sondern sie einfach benutzte. Heute, nach zwei schweren Hüftoperationen und mit maroden Lendenwirbeln, denkt der Berggeher anders über die Eile am Berg. Wie andere Einheimische kennt er Arten des Gehens, die mit der touristischen Benutzung des Körpers nur indirekt zu tun haben. Wer über Jahre Saison für Saison als junger Mensch fünfzig, sechzig und mehr Kilogramm auf dem eigenen Rücken über tausend und mehr Höhenmeter zu den Schutzhütten hinaufgetragen hat, damit auch dort oben Bier und Wein fließen, der weiß im Alter, woher die Schmerzen in den Gliedern kommen.
Eine Gerätschaft musste beim Tragen mit: die Alpenstange, oder der Alpenstock, wie er auch genannt wird. Heute schauen sich die Leute um, wenn jemand mit diesem scheinbar altmodischen Gerät die Berge durchstreift. Der Geher hat in seinem Leben wohl eine zweistellige Anzahl von Bergstöcken verbraucht. Immer wieder passiert es, dass nach zwanzig-, dreißigtausend Höhenmetern, nach vielfacher Berührung des Holzes mit Schnee und Eis, mit Steinen und mit Schlamm, die Spitze, wenn auch hart geschmiedet, abbricht, wo das Holz knapp oberhalb des Metalls über die Jahre eingerissen ist. Mitunter kann, bis die Stange zu kurz wird, die Spitze noch einmal auf den gekürzten Rumpf montiert werden. Schließlich muss ein Bergstock ein, zwei Köpfe über den Körper der Benutzerin oder des Benutzers hinausgehen, damit er gerade beim steilen Bergabgehen noch sicher gegriffen werden kann.
Es gibt nur zwei Gelegenheiten, wo die Alpenstange den heutigen Bergstöcken aus Aluminium unterlegen ist: auf flachem Schnee oder Gletscher und beim Klettern. Im flachen, aber rutschigen Gelände erlaubt ein Paar Stöcke eher, das Gleichgewicht auszutarieren, und beim Klettern verschwinden die Stöcke bekanntlich im Rucksack, was mit der Alpenstange schwerlich gelingt. Aber in allen anderen Fällen ist die Alpenstange dem neumodischen Zeug hoch überlegen. Im Ernstfall hält sie die achtzig, neunzig Kilo eines Erwachsenen mühelos, während die Aluminiumstöcke einfach wegbrechen. Auf schmalem und steilem Steig, der womöglich etwas eingeschluchtet ist, wo die beiden Lekis oder Makalus bei jedem Tritt im Weg sind, landet die Spitze des Alpenstocks schön seitwärts der Route und macht den Weg frei für die Beine des Berggehers. Queren im steilen Schnee geht ideal mit der Alpenstange, während die Stöcke auf einer Seite immer entweder zu kurz oder zu lang sind.
Freilich bedarf es aber einiger Übung, um das stabilere und schwerere Gerät sicher und ohne Eigengefährdung zu handhaben ...